26.04.2016

Kaninchen mit Verdauungsproblemen, geschwollenen Lippen und Konjunktivitis

Frage

Folgender Fall bereitet mir Probleme: … ein weibliches, inzwischen kastriertes Kaninchen, 5Jahre alt, fiel uns zunächst wegen ihres extrem ausgewölbten Abdomens auf. Nach der Kastration besserte sich das Bild minimal, aber der Bauch ist immer noch extrem dünn bemuskelt und aufgetrieben.

[In der Blog-Übersicht wird hier ein Weiterlesen-Link angezeigt]

Dennoch war der Allgemeinzustand bis vor kurzem ungestört. Eine einseitige Konjunktivitis im Februar diesen Jahres besserte sich auf Behandlung mit Augentropfen. Ende März wurde sie vorgestellt, weil ihr das Futter beim Fressen wieder aus dem Maul fiel. Die Lippenwaren stark geschwollen, sodass wir zunächst eher an ein Trauma dachten. Die Fütterung erfolgt überwiegend mit frischen Kräutern (v.a. grüne Soße), dazu gibt es Heu. Aufnahme von Zimmerpflanzen oder Efeu oder anderen ungewöhnlichen Dingen haben wir anamnestisch ausgeschlossen. Die Behandlung mit Metacam erbrachte eine Besserung aber noch immer keine vollständige Normalisierung. Im Röntgen fiel mir vor allem die etwas seltsam geformten und vor allem rechts verschattete Bullae auf. Einen eindeutigen Grund für die Lippenschwellung im Ober- und Unterkiefer konnte ich nicht ausmachen, freue mich daher über Input.

Antwort:

Dieses Kaninchen leidet meines Erachtens an einer chronischen Entzündung der oberen Atemwege. Im Bereich der Choanen ist kalzifizierter Eiter zu sehen (siehe später mehr dazu) und durch eine vermutlich aufsteigende Infektion via Tuba Eustachii sind beide Mittelohren betroffen (einseitige Verdichtung der Bulla tympanica (gestrichelter gelber Pfeil) und contralateral fast vollständige Lyse der Wand des Mittelohres (gelbe Pfeile).

Anhand der dorsoventralen Röntgenaufnahmen (welche auf meinem Bildschirm sehr unscharf sind – auf dem Original wird es sicher besser zu erkennen sein) vermute ich eine gewisse Beteiligung des linken Kiefergelenkes (schwarze gestrichelte Pfeile). Aber dies bedarf der weiteren Abklärung. Hiermit einhergehend ist häufig eine gewisse Kiefersperre; d.h. der Fang kann nicht maximal geöffnet werden. Bei anderen Fällen verschiebt sich der Unterkiefer zunehmend zur Seite sobald man versucht den Fang passiv weit zu öffnen. Zum Vergleich in der Mitte unten das entsprechende Röntgenbild eines gesunder Kaninchens mit dementsprechend physiologischen Kiefergelenken. Darunter das Präparat eines anderen Kaninchens mit beiderseitiger Lyse der Mittelohrwand als Folge einer hochgradigen chronischen Otitis media. Desweiteren lässt die dv-Aufnahme erkennen, dass ein oberer Schneidezahn strukturell verändert und/oder intraalveolär rotiert sein muss. Eine sorgfältige klinische Untersuchung kann bei der Klärung helfen und selbstverständlich auch eine weitere röntgenologische Diagnostik in Form intraoraler Röntgen-Aufnahmen.

Bei diesem Patienten ist darüberhinaus auch der Tränen-Nasenkanal verdichtet (rechte weiße Linien) und das Lungenfeld infolge der chronischen Rhinitis leicht überbläht (Emphysem) (Bild des Thorax hier nicht enthalten). Die seitliche Röntgenaufnahme des Kopfes lässt im Bereich überhalb der Mitte der oberen Schneidezähne eine eigenartige Struktur erkennen (????), die mir so nicht bekannt ist. Da in diesem Bereich der Tränen-Nasenkanal in die Nasenhöhle mündet, sollte man sich diesen Bereich klinisch nochmals genauer anschauen und den Tränen-Nasenkanal auch unbedingt spülen. Auch Kontrastmittelstudien wären möglich. Hinzu kommt, dass die klinischen Kronen der Schneidezähne im Ober- und Unterkiefer deutlich zu lang sind (kurze gelbe Linien) und die extrem spitz auslaufenden unteren Inzisivi unphysiologisch mit ihren maxillären Antagonisten okkludieren = direkter Kontakt und pathologischer Okklusionsfläche (blauer gestrichelter Pfeil). Die normale Situation zeigt das Bild rechts oben. Im Bereich der unteren Inzisivi ist kaudal der sichtbaren Zahnkrone eine Knochenlyse erkennbar (roter Pfeil) (seitliche Aufnahme und Schrägaufnahme). Dem sollte man ebenfalls nachgehen (periodontale Infektion? Symphyse noch intakt? Einseitig? Folge des häufigen Einsatzes von Kiefersperrern?). Im Vergleich zu den oberen Prä-Molaren sowie Molaren sind die unteren Backenzähne intraoral zu lang und die gesamte Kaufläche der Backenzähne ist sehr uneben (untere lange gelbe Linie). Der dritte Oberkieferbackenzahn (P4) drückt sich in einen entsprechend erweiterten Approximalbereich im Unterkiefers (vermutlich P4-M1 –Seite?) (grüner Pfeil). Dies erfordert ebenfalls eine weitere Diagnostik (intraorale Aufnahmen), da sich hier immer wieder Futterpartikel einspießen können, die sich dann zersetzen und so progressiv eine lokale periodontale Entzündung verursachen, die unaufhaltsam weiter fortschreitet. Darüberhinaus bedarf der erweiterte Approximalbereich zwischen den beiden letzten unteren Backenzähnen (M2-M3 Seite?) ebenfalls einer weiteren diagnostischen Abklärung (orangener Pfeil).

Mir erscheint auf der dv-Aufnahme der linke Bulbus weiter aus der Orbita herauszustehen als dies rechts der Fall ist (gelbe Linien). Dies könnte die Folge der schwerwiegenden linksseitigen Otitis media sein, die mit einer deutlichen Knochenlyse einhergeht (sekundäre retrobulbäre Entzündung bzw. Schwellung). Auch dies sollte weiter abgeklärt werden (klinische Diagnostik und ev. Ultraschall). Wie bereits zu Beginn dieser Diskussion erwähnt, zeigt das dorsoventrale Röntgenbild im Bereich der Choanen mehrere kleine röntgendichte Strukturen (roter Pfeil), die mit kalzifiziertem Eiter vereinbar sind. Zum Vergleich links oben der entsprechende Bereich bei einem gesunden Kaninchen. Der Bereich der Choanen ist frei und gut belüftet (gestrichelter roter Doppelpfeil).

Die Schwellung der Lippen könnte im Zusammenhang stehen mit der lokalen Entzündung kaudal der unteren Schneidezähne oder aber sie ist die Folge einer gewissen Durchblutungsstörung des rostralen Kopfbereiches als Folge der lytischen Mittelohrentzündung. Ebenfalls denkbar ist eine Schädigung des nahe am Ohr vorbei laufenden Nervus facialis, der nicht nur den vorderen Kopfbereich innerviert, sondern auch für einen physiologischen Lidschluß zuständig ist. Bei der häufig mit einer schweren Mittelohrentzündung einhergehenden Parese des Nervus facialis kommt es oft zu einer Asymmetrie im vorderen Kopfbereich. Dies äußert sich in einer einseitig zurückgezogenen oberen Lippe und einem beeinträchtigten oder gar fehlenden Lidschluß des Auges auf derselben Seite. Eine sorgfältige neurologische Untersuchung kann hier rasch Klarheit schaffen. Womöglich liegt hier die Ursache für die im Vorbericht angeführte Konjunktivitis des Patienten. Oder sie ist lediglich die Folge der Tränen-Nasenkanal Problematik.

 

Nun kann der entsprechend aufgeklärte Besitzer im Gespräch mit dem Tierarzt entscheiden, ob er eine weitere Diagnostik wünscht oder ob er das Tier aufgrund der diversen und zum Teil sehr schwerwiegenden Veränderungen lieber erlösen möchte. Jegliche medikamentelle Therapie wäre rein palliativ, d.h. ohne jegliche Aussicht auf Heilung. Vor allem eine Applikation von Antibiotika wäre sinnlos, da diese derart weit fortgeschrittene Mittelohrentzündungen nicht effektiv bekämpfen können. Ebenso sinnlos wären „Ohrspülungen“ oder die lokale Anwendung von entzündungshemmenden Ohr-Präparaten. Betrachtet man das Präparat des Kaninchens mit der beidseitiger Mittelohrlyse (siehe oben – Bild 2), so mag man sich die Schmerzhaftigkeit des Prozesses vorstellen können. Wir würden die Schmerzen nicht aushalten, da bin ich mir sicher. Was machen die Kaninchen? Sie leben weiter, erscheinen „munter“, fressen und zeigen kaum klinische Symptome. Man darf sich hier nicht täuschen lassen! Auch dieses Kaninchen muss relativ unauffällig gewesen sein, ansonsten hätte man die Veränderungen früher erkennen können. Soll das Tier mit lebenslanger Antibiose und Schmerztherapie so weiterleben? Leider wird dies allzuoft empfohlen. Das muss jeder für sich entscheiden. Ich rate eindeutig davon ab. Obwohl ich mir sicher bin, dass unter der Therapie das „Leben“ für das Kaninchen weitergehen wird (aber wie ist die Lebensqualität?).

 

Die Verdauungsprobleme des Patienten sind vermutlich die Folge der chronischen Mittelohrentzündung. Ich gehe hier nicht näher darauf ein. Aber auch hier ist eine weiterführende Diagnostik erforderlich, denn es könnten auch schwerwiegendere Magen-Darm-Veränderungen vorliegen, da chronische Abszesse gerne über die Blutbahn streuen. Ich würde dem Besitzer (wenn er noch nicht aufgeben möchte), zunächst zu einem abdominalen Ultraschall sowie zu einer Kontrast-Mittel-Passage des Magen-Darmtreaktes raten. 

 

Estella Böhmer