Kommentar zum Beitrag "Heimtiere" im Metacam-Kalender 2022 / Juli
Auf dem Kalenderblatt des Monats Juli 2022 wird ein Meerschweinchen vorgestellt, das an einem Osteochondrosarkom leidet (Prof. Dr. Fehr – Hannover). Leider enthält dieser Beitrag einige Fehler,
[In der Blog-Übersicht wird hier ein Weiterlesen-Link angezeigt]
deren Erwähnung / Diskussion mir wichtig erscheinen, da gerade das sichere Diagnostizieren von dezenten Befunden entscheidend ist, um Frühstadien von Zahn- und Kiefererkrankungen sicher erkennen zu können. Oft ist nur zu diesem Zeitpunkt eine Therapie möglich, die langfristig sogar zur Heilung führen kann. Daher müssen wir gerade in der Zahnheilkunde bei kleinen Heimtieren verstärkt versuchen nicht nur Spätstadien der Erkrankungen zu diagnostizieren, deren Erkennen meist jedem relativ einfach fällt. Wir sollten uns zusätzlich verstärkt bemühen den Blick gerade für beginnende Zahn- und Kieferpathologien zu schärfen. Und dieser Fall ist ein schönes Beispiel hierfür, da vieles unerwähnt bleibt.
Ausschnitt
Punkt 1: „Laterolateral schräg linksanliegend“ – links ????.
Abb. 4 zeigt ein Meerschweinchen, das rechts (!) anliegend positioniert ist. Das rechts daneben dargestellte Röntgenbild soll vermutlich auch rechtsanliegend sein? Das ist nicht möglich, da bei der gezeigten Lagerung der rechte Unterkiefer von der Maxilla völlig überlagert wäre. Wenn, dann wird mit dieser Lagerung der linke (!) Unterkiefer dargestellt, der sich aber hierbei relativ weit entfernt vom Röntgenfilm/digitale Platte befindet (schwarze Linie). Das ist für eine radiologische Beurteilung aber ungünstig, da durch den größeren Abstand zum Film / digitalen Platte die Schärfe der Aufnahme abnimmt und somit die Befunde schlechter erkennbar werden. Standardmäßig wird der darzustellende Unterkiefer eigentlich tischnah positioniert (siehe Dentistry in rabbits and rodents WILEY 2015 oder Schattauer 2010). Falls also der Autor bezweckte den rechten Unterkiefer mit dieser „tischfernen“ Positionierung darstellen zu wollen, so hätte das Meerschweinchen linksseitig (!) gelagert werden müssen. Jedoch sehe ich in dieser Lagerungstechnik keinen Vorteil zum Standardvorgehen – ganz im Gegenteil.
Punkt 2: Die in Abb. 2 und 3 dargestellte Lagerung sei eine „kraniokaudal, dorsocaudo-rostroventrale Projektion“?
In der Feststellung einer „kraniokaudalen, dorsocaudo-rostroventralen Projektion“ sehe ich eine interessante Formulierung, die ich aber ehrlich gesagt nicht ganz verstehe. Auch fällt die unterschiedliche Schreibweise auf: einmal mit „k“ (kaudal) und ein andermal mit „c“ (caudo). Diese spezielle Lagerung für eine isolierte Darstellung des Unterkiefers beim Meerschweinchen wird in einer Publikation des Autors aus dem Jahre 2021 (siehe ebenfalls Beitrag im Blog vom 16-3-2022) korrekterweise als „isolated view of the mandible as described by Böhmer“ bezeichnet. Man findet die originale Beschreibung dieser speziellen Standardaufnahme für Meerschweinchen ebenfalls im Buch: Dentistry in rabbits and rodents WILEY 2015 sowie Schattauer Verlag 2010 (Böhmer Estella).
aus: „Macrodontia in guinea pigs – Köstlinger et al 2021
Falls der Autor die korrekte Kennzeichnung „nach Böhmer“ nicht verwenden möchte, so wäre zumindest „Unterkiefer isoliert“ angebrachter und informativer als die im Titel angeführte Beschreibung. Diese spezielle Lagerung ist jedoch international etabliert und das Resultat meiner jahrzehntelangen praktischen Erfahrung im Umgang mit Zahnerkrankungen beim Meerschweinchen. Darüberhinaus halte ich sie auch für eine adäquate Diagnostik von Malokklusionen bei dieser Tierart für unverzichtbar. Ohne diese spzielle Lagerung werden viel zu viele Befunde übersehen. Aber leider auch mit dieser Aufnahme. Das allerdings hat andere Gründe.
Abb. 2 Unterkiefer isoliert nach Böhmer
Punkt 3: Abb. 2: …. „Knochen-, zahngesund“.
Diese spezielle Aufnahme (Abb.2) wird vom Autor betitelt als „Knochen-, zahngesund“. Dies entspricht leider nicht den röntgenologisch dargestellten Tatsachen. Wie auf den ersten Blick erkennbar ist, sind die klinischen Kronen beider mandibulären Schneidezähne unterschiedlich lang (roter Kreis). Der rechte mandibuläre Schneidezahn ist deutlich kürzer (roter Pfeil). Somit ist das Gebiss keineswegs „zahngesund“. Es liegt zumindest eine Schneidezahnmalokklusion vor, die einer weiteren Abklärung bedarf. Eine unterschiedliche Länge der Schneidezähne hat eine primäre Ursache, die dementsprechend gesucht werden muss. Dies kann und sollte man nicht ignorieren, sofern man sich bemühen will, Frühstadien von Zahnerkrankungen diagnostizieren zu wollen.
Betrachten wir desweiteren die intraorale Länge aller dargestellten mandibulären Backenzähne, die angeblich unauffällig sein sollen (siehe bei: weitere Befunde: „Zähne obB., Mundhöhle, soweit einsehhbar obB“), so fällt auf, dass alle Backenzähne eine intraorale Elongation ihrer sichtbaren Kronen aufweisen (gelbe Linien). Besonders stark betroffen ist hierbei der rechte Prämolar (P4) (gelber Pfeil). Wiederum ein Widerspruch zur angeblichen „Zahngesundheit“. Eigentlich sollten sowohl die unterschiedliche Schneidezahnlänge als auch der Backenzahnüberwuchs bei einer sorgfältigen intraoralen Untersuchung auffallen.
Auf diesem Röntgenbild irritiert auch der lila Pfeil des Autors. Worauf soll oder will er hinweisen? Der Pfeil markiert den Apex des vorletzten unteren Backenzahnes (M2). Das Osteochondrosarkom befindet sich aber im Apexbereich des letzten unteren Backenzahnes (M3), den man auf dieser Aufnahme aber leider wegen der Überlagerung mit dem Processus zygomaticus nicht erkennt (orangener Pfeil). Ursache hierfür: nicht weit genug geöffneter Fang oder Patient wurde nicht ausreichend weit vom Tisch angehoben.
Punkt 4: Abb. 5: „Kieferknochen, Zähne: zahngesund“
Dies soll vermutlich die laterale Schrägaufnahme des Patient aus Abb. 2 sein (Meerschweinchen 2J). Auch hier stimmt die Beurteilung der Zahngesundheit nicht. Dass die mandibulären Backenzähne intraoral elongiert sind, ist trotz der schlechten Lagerung (Nase zu weit vom Tisch entfernt und daher teilweise Überlagerung der mandibulären Backenzähne und irritierende Darstellung des Arcus zygomaticus rostral der oberen Prämolaren) deutlich erkennbar. Schon allein der Vergleich dieses Röntgenbildes mit dem Röntgenbild in Abb. 6 zeigt die eklatante intraorale Verlängerung der Zahnkronen aller unteren Backenzähne. Hinzu kommt eine rostral leicht ansteigende Kaufläche (rote gestrichelte Linie), die mit der beginnenden Brückenbildung des rechten Prämolaren (P4), die bei der Unterkiefer isoliert Aufnahme nach Böhmer sichtbar war (siehe oben) durchaus vereinbar ist (roter Pfeil) (siehe oben). Bei Normokklusion ist die Kaufläche hingegen absolut eben und die mandibulären Backenzähne sind in toto kürzer (siehe Abb. 6).
Auch auf diesem Röntgenbild versteht man den lila Pfeil nicht, der auf den M2 deutet, wohingegen das Osteochondrosarkom ventral des M3 liegt (Abb. 6).
Abb. 5
Punkt 5: Falsche Lokalisation des Tumors
In Abb. 6 heißt es: „rechts auf Höhe von UK M1, M2 (309-310) periostale knochendichte blasige Umfangsvermehrung“. Das ist eine absolut falsche Angabe. Der letzte Unterkiefer-Molar rechts (M3) ist der 411 !!!.
Unter „weitere Befunde“ (rechts im Text des Posters) steht: „links (!) auf Höhe M3 (!!!!!!!) (311) knochenderbe Umfangsvermehrung“. Was nun? – links oder rechts? M1? M2? Oder M3? Verwirrung pur.
Betrachtet man das entsprechende schräge Röntgenbild (Abb. 6), so weisen die vom Autor platzierten lila Pfeile auf den rechten M3! Partiell ist vielleicht noch der M2 betroffen bzw. zu nennen. Der M1 jedoch ist viel zu weit rostral gelegen und ist somit außerhalb des Neoplasiebereiches, welcher sich weiter kaudal befindet.
Spätestens jetzt fragt man sich schon, wer den Artikel/das Poster eigentlich mit entsprechendem Sachverstand nochmals kritisch durchgelesen hat. Der Beitrag enthält eine kunterbunte Reihe von Widersprüchen, die - so scheint es - keiner hinterfragt oder kritisch geprüft hat. Man kann Fehler machen, das ist klar. Aber eine Malocclusion als Normokklusion zu deklarieren, eine falsche Schräg-Lagerung zu präsentieren und eine falsche Lokalisation des Tumors anzugeben ist schon etwas viel „Schlamperei“ oder Unkonzentriertheit für einen so kurzen Beitrag.
Wollen wir die Therapie von Malokklusionen bei Heimtieren verbessern, so müssen wir versuchen äußerst sorgfältig in der klinischen und radiologischen Diagnostik vorzugehen. Vor allem bei der radiologischen Diagnostik muss man große Sorgfalt walten lassen und Verdachtsbefunde weiter abklären. Daher halte ich die speziellen Aufnahmetechniken zur isolierten Darstellung des Ober- sowie Unterkiefers beim Meerschweinchen nach Böhmer, wie ich sie in meinem deutschen Zahnbuch 2010 erstmals beschrieben habe, für absolut unverzichtbar für eine gute frühzeitige Diagnostik. Diese Aufnahmen zeigen Befunde, die bei Standardprojektionen überlagerungsbedingt nicht erkennbar sind. Da jede kleinste Veränderung am Gebiss schwerwiegende Folgen haben kann – langfristig gesehen – müssen wir versuchen sie frühzeitig zu erkennen. Wir sollten uns daher bemühen auch dezente Veränderungen wirklich ernst zu nehmen und ihnen dann auch dementsprechend gezielt weiter nachgehen. Leider ist der hier geschilderte Fall kein gutes Beispiel hierfür. Eine unzulängliche Diagnostik muss unbedingt vermieden werden. Nur dann können wir bessere Langzeitergebnisse erzielen.
Punkt 6: Lagerung - Strahlenschutz
Zum Schluß möchte ich noch einige Worte zur gezeigten Lagerungstechnik anfügen. Die Lagerung Unterkiefer isoliert nach Böhmer wird am besten mit Hilfe von zwei entsprechend langen Mullbinden angefertigt, die um die oberen bzw. unteren Schneidezähne geführt werden. Eigentlich ist es am günstigsten, die Zahnkronen der Inzisivi die Binde durchstoßen zu lassen. Somit kann der Fang maximal recht einfach geöffnet und das Tier adäquat vom Tisch angehoben werden. Wählt man entsprechend lange Mullbinden, so ist die behandschuhte Hand des Untersuchers weit vom Zentralstrahl entfernt (ca. 30 cm). Das reduziert die auf die Hände fallende Streustrahlung. Diese Lagerung wurde dementsprechend von mir auch 2010 erstmals beschrieben. Lagert man hingegen so, wie es der Autor in diesem Poster beschreibt bzw. empfiehlt, so sind die nicht behandschuhten (nur mit einem Bleituch abgedeckten) Finger des Untersuchers viel zu nah am Zentralstrahl und die Dosis der auf sie einfallenden Streustrahlung dürfte wegen des geringeren Abstandes zum „Objekt“ deutlich höher sein. Die Einhaltung des Strahlenschutzes erscheint mir daher etwas schwieriger. Hinzu kommt, dass durch diese Lagerung, bei der die Mullbinde nach kaudal gezogen wird und wobei gleichzeitig die Schädeldecke mit den Fingern dementsprechend nach rostral gedrückt wird (gestrichelte weiße Pfeile), der darzustellende Zahnbereich zu stark mit den Weichteilen des Halses überlagert wird. Man sieht dies recht gut in folgendem Röntgenbild (gelbe gestrichelte Linien). Dezente Zahn- und Knochenbefunde können hierdurch leichter übersehen werden. Daher empfehle ich die ursprünglich von mir beschriebene Lagerungstechnik mit Hilfe von Mullbinden, da der Halsbereich hierbei besser und einfacher gestreckt werden kann. Das macht die Diagnostik zuverlässiger und ist meines Erachtens auch hinsichtlich des Strahlenschutzes sinnvoller.
Ich wünsche allen Lesern dieses Beitrages viel Erfolg und Spaß beim Anfertigen der speziellen Lagerung „Unterkiefer isoliert nach Böhmer“. Wenden sie die originale Technik an (siehe mein Zahnbuch) und ich bin mir sicher, dass sie über die Ergebnisse genauso begeistert sein werden wie ich es jedesmal aufs Neue bin, wenn ich eine derat tolle Aufnahme sehe. Entscheiden sie selbst, welche Lagerungstechnik sie hinsichtlich der Einhaltung des Strahlenschutzes wählen wollen. In Kürze werde ich auch über eine alternative Lagerungstechnik ohne Notwendigkeit der manuellen Fixierung des Patienten berichten.
Falls sie Fragen zum Thema haben, schreiben sie mich einfach per e-mail an. Oder schicken sie mir ihren Kommentar zum Thema zu, damit wir ihn hier veröffentlichen und diskutieren können. Egal was sie machen – versuchen sie ihre Diagnostik zu verbessern! Es wird sich lohnen.
Estella Böhmer